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der Zeitschrift
»Dienst am Wort«
Herausgeber
Leseprobe 3
19. Sonntag im Jahreskreis
Persönlich betroffen
Lesejahr A
Beitrag zur Lesung

Einführung

»Das Wasser steht mir bis zum Hals.« Wenn mir das einer sagt, weiß ich, was los ist. Er hat entweder große finanzielle Schwierigkeiten oder andere Probleme. Wenn es mir auch schon mal so ging, kann ich noch besser mitfühlen.
Wer so redet, weiß vielleicht aber gar nicht, dass er einen Psalm zitiert. Im Psalm 69 betet ein unschuldig Verfolgter so zu Gott. Er wendet sich in seiner Not ihm zu und ruft: »Hilf mir, o Gott!« Der untergehende Petrus hat später zu Jesus geschrien: »Herr, rette mich!« Auch wir rufen jetzt zu ihm: Erbarme dich und hilf uns, wo immer uns das Wasser bis zum Hals steht.

Predigt

Zum Text: Röm 9,1–5 (2. Lesung)

Lebhafte Diskussionen …

Da diskutieren sie lebhaft über das Bürgergeld und die Frage, ob es nun strengere Sanktionen braucht. Fragst du sie, ob sie denn einen Arbeitslosen persönlich kennen, herrscht Schweigen. Da wird debattiert, ob das neue Gesetz nun richtig sei, das Ausländern schneller einen Aufenthaltstitel und die deutsche Staatsbürgerschaft ermöglicht. Doch keiner von ihnen hat eigentlich Kontakt zu Flüchtlingen oder Asylbewerbern, um die es da geht. Da echauffieren sie sich über die ganzen Gender-Diskussionen, aber keiner von ihnen hat je mit einem queeren Menschen gesprochen.

… ohne persönlich betroffen zu sein

Wir kennen das alle. Es gibt Themen, über die wir leidenschaftlich diskutieren, ohne dass wir selbst betroffen sind oder Menschen, die es angeht, wirklich kennen. Und es gibt Themen, da können wir mitreden, weil sie uns ganz persönlich angehen und wir viele eigene Erfahrungen beisteuern können. Wie ist das beim Thema Judentum und Antisemitismus? Viele von denen, die judenfeindlich daherreden oder gar antisemitische Straftaten begehen, haben, so vermute ich, nie wirklich mit jüdischen Menschen Kontakt gehabt. Aber auch jene, die sich um ein gutes Verhältnis zu den jüdischen Mitbürgern bemühen – und da sollten wir dazugehören –, können das nicht immer aus persönlicher Betroffenheit tun. Sie kennen selbst keine jüdischen Menschen, haben keinen Kontakt zu einer jüdischen Gemeinde, haben noch nie mit einem Juden gesprochen, der einen antisemitischen Angriff erlebt hat. Als ich vor Jahren in der Grundschule ein paar Stunden zum Thema Judentum gehalten habe, ging das mir immer so. Die einzigen Erfahrungen hatte ich von meinen Israel-Reisen.

Paulus ringt leidenschaftlich – als Betroffener

Ganz anders ging es Paulus vor 2000 Jahren. Nur eine ganz kleine Gruppe der Juden, die so genannten Judenchristen, waren zum Glauben an Jesus Christus gekommen. Die große Mehrheit lehnte diesen neuen religiösen Weg ab. Dagegen waren schon viele aus dem Heidentum Christen geworden. Gerade Paulus hatte sie als »Apostel der Heiden« gewonnen. »Unablässig leidet mein Herz«, schreibt er. Denn wie kann es sein, dass das Volk, aus dem Jesus »dem Fleische nach« entstammt, ihn nicht als Messias erkennt? Wie kann das Evangelium glaubwürdig sein, wenn Gott sein erwähltes Volk nun offenbar verstoßen hat? Kann man seinem Wort letztlich nicht trauen? Das war die Anfrage, der sich Paulus seitens der Heidenchristen ausgesetzt sah. Aber die ihn auch ganz persönlich umtrieb und schier zerriss. Denn es ging um seine Schwestern und Brüder. Er war ja selbst Jude, Gesetzeslehrer, mit den Schriften vertraut. Wenn er in den drei Kapiteln 9 bis 11 des Römerbriefes, die es sich einmal zu lesen lohnt, über diese Fragen nachsinnt, um eine Antwort ringt und sie in einer hoffnungsvollen Perspektive am Ende der Zeiten findet, tut er das als einer, der persönlich betroffen ist. So sehr, dass er in dieser Einleitung, die wir gehört haben, sogar sagt: »Ich wünschte selbst verflucht zu sein, von Christus getrennt, um meiner Brüder willen, die der Abstammung nach mit mir verbunden sind.«

Betroffen aufgrund unserer Geschichte

Wenn wir heute auf das Judentum schauen, mag die Frage, die Paulus damals umgetrieben hat, immer noch im Raum stehen. Wenn auch nicht so drängend wie zu seiner Zeit, als die Christen mit einer baldigen Wiederkunft Christi rechneten. Wenn wir heute über die jüdischen Geschwister nachdenken oder reden, liegt aber eine 2000-jährige Geschichte hinter uns. Eine leidvolle Geschichte, in der wir Christen uns nicht nur von der jüdischen Religion entfernt und abgegrenzt, sondern auf vielfältige Weise jüdische Menschen angefeindet, verletzt und getötet haben. Eine Geschichte der Judenfeindlichkeit und des Antisemitismus, der in unserem Land in der Nazi-Herrschaft zum unvorstellbaren Bösen des Holocaust geführt hat. Selbst wenn ich keine jüdischen Mitbürger persönlich kenne, keinen Kontakt zu einer jüdischen Gemeinde habe, den jüdischen Glauben nie miterlebt habe, sind wir aus unserer Geschichte heraus Betroffene.

Aus Betroffenheit den anderen kennen und verstehen lernen …


Denn es gibt eine Betroffenheit, die darüber hinausgeht, dass ich zu einer Gruppe gehöre, die von finanziellen Rahmenbedingungen, von Gesetzen, von strukturellen Gegebenheiten betroffen ist wie beispielsweise das Pflegepersonal. Dass ich zu einer Gruppe gehöre, deren Erfahrungen ich teile, weil ich einer von denen bin, die Familie und Kinder haben. Es gibt auch die Betroffenheit, die dadurch entsteht, dass ich zu denen gehöre, die für die Situation anderer mit verantwortlich waren oder sind. Im Blick auf die Geschichte weiß ich um die Verantwortung zur Wachsamkeit, die auf uns heute liegt. Im Blick auf die Gegenwart frage ich, wo ich mit dazu beitrage, was andere erfahren, aushalten oder erleiden müssen. Wo ich diese Art von Betroffenheit erkenne, ist das wie eine Einladung, die andere Seite einmal kennenzulernen, zu verstehen zu suchen. Das kann geschehen, wo Politiker oder Klinikchefs ihrem Pflegepersonal zuhören, ja vielleicht sogar mal sie einen Tag begleiten. Das kann geschehen, wenn Eltern von Schülern nicht nur über Lehrer reden und schimpfen, sondern sich von ihnen einmal in ihre Welt mitnehmen lassen. Das kann geschehen, wenn ich mir die Geschichten derer anschaue oder anhöre, die heute Opfer von Diskriminierung oder Antisemitismus werden.

… und uns Gott anvertrauen

Paulus hat beides erlebt. Er war persönlich Betroffener, weil es in der Frage, wie sollen wir mit den Juden umgehen, um seine Schwestern und Brüder ging. Und er hat in den auf unsere Lesung folgenden Kapiteln darum gerungen, sie und ihre Haltung von innen heraus zu verstehen. Dort, wo sein Ringen und Verstehen dann an die Grenze gekommen ist, hat er seine Suche nach einer Antwort vertrauensvoll in Gottes Hände gelegt und nur noch gebetet: »Gott, der über allem ist, er sei gepriesen in Ewigkeit.« Das könnte auch uns manches Mal helfen. Dort, wo wir trotz allem Bemühen uns nicht in die Situation eines anderen hineinversetzen, einen anderen mit seiner Position nicht verstehen, uns nicht einig werden können. Ihn oder uns beide betend Gott anzuvertrauen, die Fragen offenzuhalten, auf eine künftige Klärung zu hoffen, könnte ein Weg sein, dass Fronten sich nicht verhärten. Im Blick auf die Juden haben wir Christen das im Lauf der Geschichte leider oft nicht so gemacht.

Fürbitten

Gott, du bist Mensch geworden und hast dich in Jesus, deinem Sohn, berühren lassen von unserer Not. Höre unsere Bitten:

– Heile die Wunden derer, die von sexuellem und geistlichem Missbrauch betroffen sind, und lass die Gesellschaft und unsere Kirche aus ihrem Leid die richtigen Konsequenzen ziehen.
– Stille – Du, Gott, den unser Leid berührt:
(Erbarme dich.)

– Stärke unsere jüdischen Geschwister, die auch heute noch antisemitischen Beleidigungen und Angriffen ausgesetzt sind, und segne alle Bemühungen des interreligiösen Dialogs.
– Stille – Du, Gott, den unser Leid berührt:

– Nimm dich derer an, die von den Folgen des Klimawandels am stärksten betroffen sind, und schenke uns Einsicht und Entschiedenheit, das heute Notwendige zu tun.
– Stille – Du, Gott, den unser Leid berührt:

– Löse die Spannungen, die wir in unserer Welt erleben, und schenke Verständigung und Versöhnung, wo Nationen und politische Richtungen sich aggressiv gegenüberstehen.
– Stille – Du, Gott, den unser Leid berührt:

Barmherziger Gott, in Jesus Christus reichst du uns deine rettende Hand. Sein Geist kann alle Angst und Furcht vertreiben. Darauf vertrauen wir und dafür danken wir, heute, alle Tage, bis in Ewigkeit. Amen.

Klaus Kempter

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